Der Wurf Gottes

 

Heute Abend wurde spontan gekniffelt. Jawohl, in der ganz natürlichen Isolation eines kleinen Dorfes im Odenwald griff man nach Würfel und Becher und ließ die alte Spieltradition wiederaufleben. Ehrlich gesagt, richtig begeistert war ich nicht. Aber so ein Spiel hat doch etwas Brutales, oder? Etwas Hochspannendes, etwas Brandgefährliches, fast so schlimm wie eine Podiumsdiskussion: Tränende Augen, gebleckte Zähne und passiv-aggressive Seitenhiebe, wohin man auch schaut. Aber das ist nicht das Schlimmste. Dieser Druck, unter dem man steht, und zwar von allen Seiten!

Der innere Schweinehund will bloß eins: Gewinnen, und zwar mit dem höchsten Vorsprung und zum höchsten Schaden der Konkurrenten. Der zivilisierte Mensch möchte ein guter Gewinner und Verlierer sein, und irgendwie die christliche Nächstenliebe wahren, oder zumindest den Haussegen balancieren.

 

Und dann die Mitspieler von außen: Mein Vater ist jemand, der das Spielen genießt. Deshalb spielt er gut, verliert er gut, gewinnt er gut. Und das verlangt er von jedem. Gegen so ein leuchtendes Beispiel ruhiger Gelassenheit und Lebensfreude kann man nicht feige desertieren und Kopfschmerzen vorschützen, kann man sich nicht in die innere Distanz und die Gleichgültigkeit stürzen und halbherzig würfeln – gegen so ein Beispiel muss man ein guter Spieler sein. Und mindestens einer in der Runde ist dabei, der um jeden Preis gewinnen will. Vielleicht weil er normalerweise ständig verliert, oder weil er schon zum fünfzehnten Mal verloren hat, oder weil ihn nur noch ein einziger Punkt vom Sieg trennt, oder weil er einen schlechten Tag hatte. Fast fühlbar ist der selbstlose Wunsch aller Umstehenden, die sich, den Atem angehalten, über den Becherinhalt beugen; Sei ein Kniffel! Denn natürlich kennt man diese Situation selbst zu genüge. Und trotzdem heißt es: Hart bleiben. Verloren ist verloren.

 

Was für eine Dynamik! Bluten Ihnen da nicht schon die Ohren, wenn Sie das hören? Wer würde sich das schon freiwillig antun? An einem Sonntagabend?

 

Ich jedenfalls trat aus einer grüblerischen Phase an den Kniffeltisch. Hatte ich doch erst wenige Stunden zuvor live eine Heilige Messe aus den USA nachverfolgt, deren Predigt mich noch beschäftigte. Von der Idee des Spieleabends war ich, aus den oben angerissenen Gründen, wenig begeistert. Wenigstens kein Mensch-Ärger-Dich-Nicht, das bei uns brutaler abläuft als die meisten Shooter-Spiele, die ich kenne: Nein, Kniffel sollen wir spielen. Mein letztes Kniffel lag lange zurück, und so musste mich erst mit den Regeln vertraut machen, sodass mir praktischerweise die ersten Würfe nicht so wichtig waren, weil ich nicht richtig wusste, um was es eigentlich ging.

 

Meine Mutter allerdings hat eine lange Fehde mit Kniffel. Schon bei den ersten Würfen hat sie einen Flashback. „Gegen meine Kinderfreundin Anke hab‘ ich Kniffel gespielt, und immer verloren.“ Eine kurze Pause, während sie in die Ferne – in die Vergangenheit – blickt, am Ohr meines Bruders vorbei, der unentschlossen die Würfel in der Hand hält. „Und dann später gegen meine Freundin Elisabeth.“ Man hängt an ihren Lippen. „Da hab ich auch immer verloren.“ Alle sind betroffen. Tröstende Worte werden gesprochen. Feierlich spielt man weiter. Meine Gedanken wandern zurück zur Predigt, die die Geschichte einer jungen Frau erzählte, die Gott mittags oft bat, dass es Tacos zu essen geben würde, oder ein anderes Gericht, auf das sie Lust hatte. Nicht, weil sie das Gebet für eine Art Speisekarte und Gott für eine übernatürliche Catering-Firma hielt, sondern weil sie sich sicher war , dass Jesus sie so sehr liebte, dass er sich für ihre kleinen Wünschen interessierte, und ihr seine Liebe dadurch zeigen wollte. Das Schöne war, dass es oft klappte! 

 

Inspiriert von dieser Geschichte dachte ich zwischen den Würfen: Lieber Gott, eigentlich kannst du mich ja heute mal gewinnen lassen. Und dann, mit etwas schlechtem Gewissen: Oder meine Mama, die würde ja so gerne. Und dann, mit einer gewissen Abgefeimtheit: Oder egal wen. Du weißt schon selbst am besten, für wen es jetzt gut wäre.

Ich nahm den Becher in die Hand, schüttelte ordentlich, hörte meinem Bruder zu, der irgendwas erzählte, würfelte – fünf Sechser. Der erste und letzte Kniffel der Runde. Und als wir am Ende die Punkte zusammenzählten, rechnete ich mir aus, dass ich ohne diesen Kniffel um einen einzigen Punkt gegen meinen Bruder verloren hätte.

 

Ich gewann an diesem Abend beide Runden. Und das Erlebnis erinnerte mich an all diese Kleinigkeiten, die ich über meine ‚großen Unzufriedenheiten‘ gar nicht mehr ernst genommen hatte. Dass in einem traurigen Moment plötzlich eins meiner Lieblingslieder im Studentencafé gespielt wird, das total selten im Radio läuft. Dass auf Netflix plötzlich die Filmreihe verfügbar ist, die ich seit Monaten unbedingt schauen wollte[1]. Dass im richtigen Moment das Wetter hält. Dass mir eine Podcast-Episode vorgeschlagen wird, die auf Fragen antwortet, die ich mir stelle. Der Zyniker in mir, der innerlich verwundet ist, lässt all das von sich abperlen. Was ist schon ein Lied? Oder ein vorgeschlagenes Video auf YouTube? Dahinter steckt doch nicht Gott, sondern ein Algorithmus. (Das ist natürlich Unsinn, denn Gott ist ja die Ursache von allem, auch des Algorithmus. Und wer sagt denn, dass ich in genau diesem Moment den Computer einschalte, und mir die Zeit nehme, das Video anzuklicken?)

Was der Zyniker eigentlich denkt, aber nicht ausspricht, ist: Was interessiert sich Gott denn für meine Lieblingslieder? Was interessiert er sich denn für das Wetter, oder für mein persönliches Entertainment? Was für ein Mehrwert hat das denn für sein Himmelreich?

 

Wie traurig! Was für eine entkernte, herzlose Ansicht von Liebe. Wenn ich verliebt bin, dann möchte ich wissen, dass die andere Person das weiß. Nicht, weil ich damit etwas bezwecke, sondern einfach, weil es sich gut anfühlt, weil es gut ist, geliebt zu werden. Das soll die andere Person spüren! Wir Menschen sind so schrecklich, so wunderbar banal! Wir lieben es, zu essen, unser Lieblingslied zu hören, einen schönen Film anzusehen. Kann es wirklich sein, dass jemanden, der uns bis zum Tod liebt, der uns sogar so erschaffen hat, das nicht interessiert? Hat Gott etwa nicht die ganzen Bands und Künstler auf meiner Spotify-Playlist erschaffen? Hat er ihnen etwa nicht die Inspiration für ihre Musik und Texte gewährt – und dafür gesorgt, dass mir die Lieder zur Verfügung stehen? Und kann es wirklich sein, dass Christus es irgendwie emotionslos erträgt, wenn ich mich über ein banales Lied freue? Ich denke da manchmal an meine lieben, guten Eltern, die früher bei längeren Autofahrten bei den Liedern unserer Ritter-Rost-CDs lauthals mitgeschmettert haben. Ohne uns Kinder hätten sie das sicherlich nicht getan, aber sie konnten es mit uns zusammen erleben und sich mit uns daran freuen. Ist Christus da kälter? Ist sein Musikgeschmack zu göttlich?

 

Also, wenn jemand allmächtig wäre, und verliebt, dann würde er doch alles auf der Welt zu einem Liebesbrief an sein Objekt der Anbetung machen, und ich glaube, das tut Gott auch: Denn er will, dass wir wissen, dass er uns liebt. Das tut er nicht aus Gefühlsduselei, sondern, um unser Herz zu gewinnen, um uns an sich zu ziehen. Er will, dass wir, wenn wir uns für oder gegen ihn entscheiden müssen, wissen, wer er ist.

 Denn wir müssen uns entscheiden, spätestens, wenn unser Herz im Lauf des Lebens zerbrochen wird: Sei es durch einen Todesfall, eine Krankheit, irgendeine Katastrophe, oder einfach durch die Erkenntnis, dass das Leben voll von Leid ist. Dann können wir Gott anklagen und sagen: „Wenn du mich wirklich lieben würdest, dann wäre das nicht geschehen. Dann hättest du es nicht zugelassen. Oder du würdest mich jetzt hier herausholen.“

 

Die Mutter der jungen Frau, die Jesus um Tacos bat, erkrankte später an Krebs. Sie gewann den schweren Kampf, und die junge Frau dankte Jesus in voller Gewissheit, dass er sie liebte. Der Krebs kam aber zurück, und diesmal starb ihre Mutter. Die junge Frau klagte Gott nicht an. Sie wusste so sicher, dass Gott sie liebte, dass sie den schrecklichen Verlust und die Trauer annehmen konnte, ohne Bitterkeit gegen Christus. So war ihr Herz gestärkt von den kleinen Liebesbeweisen, die sie über die Jahre gesammelt hatte – mit so etwas Banalem wie Tacos.

 

Deshalb nehme ich den Wurf als einen göttlichen Wurf, als göttlichen Kniffel, als einen kleinen Liebesbeweis meines Schöpfers. Mein Herz war ihm so wichtig, dass er mir an diesem Abend einen kleinen, unverdienten Sieg schenkte. Ich habe mir also vorgenommen, mehr auf diese kleinen Dinge zu achten – und mir mein Herz stärken zu lassen.

 

Die Heilige Messe war übrigens vom 29.03. bei Father Mike Schmitz.

Hier der Link zum Video: https://www.youtube.com/watch?v=vGv9j9PCyvo

Unter diesem Link sind seine Predigten als Podcast zu finden: https://bulldogcatholic.org/homilies-archive/

 

Die, über die es in diesem Artikel geht, ist zu diesem Zeitpunkt (29.03.20) noch nicht online, dürfte es aber in den nächsten Tagen sein. 

[1] Die Studio-Ghibli-Filme – sehr zu empfehlen!!

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