Welt auf dem Kopf

 

Stell dir vor, du liegst auf dem Sofa und dir ist todlangweilig. Also schwingst du deine Beine über die Lehne und lässt deinen Kopf über den Boden hängen, sodass deine Haarspitzen den Boden streifen. Wann hast du das zum letzten Mal gemacht? Wahrscheinlich als Kind, denn einem Erwachsenen wird es langweilig, auf dem Sofa zu liegen: Entweder, man kann ein bisschen dösen, oder man kann gemütlich auf seinem Handy oder PC herumtippen. Oder Zeitung lesen. Oder über irgendetwas nachgrübeln.

Das ist schade, denn die Welt auf dem Kopf ist eine andere Welt: Wo die Möbel auf der Decke kleben, und du von den Menschen zuerst die Füße siehst. Alles ist umgedreht. Und du kannst natürlich deinen Platz auf dem magischen Sofa, von dem aus du die andere Welt beobachtest, nicht verlassen, aber du kannst dir vorstellen, wie es draußen aussieht: Wie der Regen von unten nach oben in einen grasbewachsenen Himmel saust, wie die Bäume ihre Finger langsam nach unten strecken und die Wurzeln in das Erdreich, wie in den Bergen das Wasser fröhlich nach oben in die Täler plätschert, und die Pyramiden auf ihrer Spitze balancieren.

 

Dinge umzudrehen, auf den Kopf zu stellen, das kann unheimlich sein. Oft hört man, dass es der Teufel ist, der die Dinge umkehrt, der sie spiegelverkehrt macht. Man schreibt es ihm zu, dass er das Gute nachäfft, und zwar so, dass man es mit der echten Sache verwechseln kann – allerdings mit verheerenden Folgen. Kriminelle Organisationen, wie zum Beispiel die Mafia, sind so etwas wie eine Familie; doch anstatt echter Liebe und Selbstaufopferung wird sie durch Angst aufrechterhalten. So ähnlich, kommt es mir vor, ist es mit diesen Horrorfilmen, die in den letzten Jahren durch die Kinos gegangen sind: Annabelle, Es, The Nun, Mom … und so weiter. In diesen Filmen werden Dinge, die eigentlich für etwas Warmes, Unschuldiges, Schönes stehen, zur Wurzel eines grauenhaften Alptraums: Eine Kinderpuppe, ein Clown, eine Nonne – eine Mutter.[1]

 

Das ist auch nicht verwunderlich, denn was gibt es Unheimlicheres, als etwas, das man für gut hält, und das sich plötzlich in sein Gegenteil verkehrt? Wenn dir ein Zombie auf den Fersen ist, dann weißt du wenigstens, woran du bist. Aber wenn dich deine Lieblingskinderpuppe oder ein Kuscheltier plötzlich auffressen will, dann wirst du nicht von dem, was du als böse kennst, verraten, was man ja auch erwartet, sondern vom dem, bei dem du dich geborgen gefühlt hast. Vielleicht ist das auch das Ziel der Filme, um mit der Erfahrung klarzukommen, die jeder irgendwann machen muss: Dass das Böse in der Welt eben existiert, und zwar auch im eigenen Zuhause. Nur verzweifeln darf man daran nicht: denn das Böse ist zum Glück nicht unbesiegbar.

 

Aber zurück zu der Welt, die auf dem Kopf steht: Ist das immer etwas Böses? Als Vorgriff: nein, auf keinen Fall. Unheimlich vielleicht schon, denn mit etwas Unbekanntem kommt immer eine gewisse Desorientierung. Wie trinkt man zum Beispiel Tee in einer umgekehrten Welt? Man müsste irgendwie in die Hocke gehen und die Tasse ein paar Zentimeter unter dem Kinn umdrehen, und sich dabei die Nase zuhalten … nicht gerade die feine englische Art. Und trotzdem brauchen wir diese Fähigkeit, die Welt auf den Kopf zu stellen. Wir sehen diese Notwendigkeit in fantastischen Geschichten: Im Zauberer von Oz und Alice im Wunderland, in Narnia, wo die Tiere sprechen. Man kann sie in den griechischen Erzählungen von Faunen und Nymphen erahnen und in den römischen Reiterationen von Verwandlungen, und von Komödien oder Tragödien, in denen der Wahnsinn Dinge verkehrt, oder Frauen plötzlich die politische Macht übernehmen.

 

Warum brauchen wir Fantasie und Satire?

 

Und es ist nicht nur ein überall verbreitetes Phänomen, sondern es ist auch ein biblisches Gebot: Ihr seid das Salz der Erde. Was macht das Salz? Es macht die Dinge salzig. Es eckt an. Es intensiviert. Das ist wie ein plötzlicher Rhythmussprung oder eine Dissonanz in einem Musikstück, dass einem eine Gänsehaut über die Haut jagt. Aber warum sind diese Dinge nicht nur ästhetisch, sondern auch gut?

 

Es ist so: Wir Menschen sind begrenzt. Wir werden in eine bestimmte Generation geboren, in eine bestimmte Kultur, in der – aus mehr oder weniger sinnvollen Gründen – bestimmte Normen gelten. Zum Beispiel ist es in einer Kultur eine Norm des Guten und Schönen, dass Frauen immer einen kleinen Hut tragen: Vielleicht als Zeichen der Sittsamkeit. Damit wir nicht in die Totalität des kleinen Hutes abgleiten, und nicht anfangen, Damen zu enthaupten, denen der Hut vom Kopf rutscht, ist es notwendig, dass manche Leute die Hutnorm infrage stellen, indem sie überdimensionierte Hüte tragen, oder winzig kleine, oder ein ausgestopftes Tier oder einen Nudelsieb. Durch dieses Abstrahieren und Experimentieren, über das wir lachen können, merken wir Menschen, dass die Hutnorm zwar auf dem Prinzip des Schönen und Guten beruht, aber nicht selbst dieses Prinzip ist. Der Hut kann zwar als Zeichen für Sittsamkeit gesehen werden: Ihn zu tragen, oder nicht zu tragen, ist aber nicht gleich Sittsamkeit.

 

Abgesehen davon, dass uns das Fantasieren hilft, zu erkennen, welche Normen mit humorvoller Distanzierung zu genießen sind, kann sie auch offenbaren, was das Prinzip des Schönen und Guten tatsächlich ist. In Harry Potter zum Beispiel wird eine Parallelwelt aufgebaut, die sich von der Muggelwelt (unserer Welt) dadurch unterscheidet, dass es Zauberer und Hexen gibt, die Magie beherrschen. Da ist so ziemlich alles anders: Statt mit dem Flugzeug oder mit dem Auto zu reisen, fliegt man auf Besen, benutzt Portschlüssel oder das Flohnetzwerk. Statt bei der WM mitzufiebern, wünscht man sich Karten für die Quidditch-Weltmeisterschaft. Reist man in ferne Länder, muss man sich nicht vor Krieg oder exotischen Krankheiten fürchten, sondern vor Drachen, Riesen oder Vampiren. Und trotz dieses großen Schrittes fort von der normalen Welt steht im Mittelpunkt der Lebensgeschichte jedes Zauberers die Entscheidung zwischen Gut und Böse. Sogar die Magie selbst zeichnet diesen Konflikt nach. Die stärkste Magie, sagt Dumbledore bekannterweise, ist die Liebe.

 

Spoiler Alert – das Gute ist gut, das Schlechte ist schlecht

 

Die guten und tugendhaften Aspekte der Magie kommen in den mysteriösen Patroni zur Geltung, im schimmernden magischen Schwert von Gryffindor, in den strahlenden Farben eines Phönix. Das Böse hingegen ist hässlich, abstoßend und furchteinflößend: Die Dementoren, die in Lumpen gekleidet sind und von denen man nur die wie verrotteten, spinnenhaften Hände sieht, die alles Gute aus der Welt aussaugen, haben keine Selbstbeherrschung und unterscheiden nicht zwischen Freund und Feind. Die Horkruxe, mit denen Voldemort sich unsterblich machen will, werden erschaffen, indem man die eigene Seele aufspaltet – was man erreicht, indem man einen Menschen tötet. Als Voldemort seine Seele in sieben Teile gespalten hat, sieht er sogar beinahe nicht mehr aus wie ein Mensch. Voldemort ist unbarmherzig, grausam, stolz, feige und treulos – Verhaltensweisen, die durch diejenigen, die sich ihm in den Weg stellen, kaum stärker kontrastiert sein könnten.

 

Die Harry-Potter-Bücher zeigen das Prinzip des Guten, nämlich das Gute an sich; die Tugenden und allen voran die sich aufgebende Liebe. Das passt zu dem, was Chesterton durch seine Figur Father Brown in der Geschichte The Blue Cross zu verstehen gibt. Egal, wie viele Welten es gibt, die alle völlig unterschiedlich und fantastisch sind: Das Gute und das Böse sind überall gleich. Überall steht die Liebe gegen den Hass, überall muss die Person darum ringen, gerade zu stehen, den rechten Weg einzuschlagen. Deswegen sind solche Geschichten so nützlich: Sie verweisen darauf, was am Ende wirklich zählt. Sie grenzen den Bezirk des Prinzips ab von dem Bereich seiner Annäherungsversuche.

 

Fantasie, Satire und Blasphemie

 

Deshalb können wir uns auch über fast alles lustig machen – aber nicht über das Prinzip, denn das ist immer gültig. An dem Prinzip zu rütteln, es zu zerschlagen, ist, anders als bei der Norm, ein schwerwiegender Fehler. Das wäre, wie Jordan Peterson es gerne ausdrückt, nichts anderes als Kains Mord an Abel, dem idealen Bruder. Wir brauchen ein Ideal, an dem wir uns orientieren können, sonst driften wir ins Chaos ab. Dann wissen wir nicht mehr, in welche Richtung wir weitergehen sollen. Deshalb gilt es als Blasphemie, sich über Gott lustig zu machen, denn Gott ist nichts anderes als das Gute an sich, der Polarstern, ohne den wir in unseren tristen Gewässern verloren wären. Nur die Todesser machen sich im Ernst über Lily Potter lustig, die sich für ihren Sohn geopfert hat. Harry reagiert zu Recht darauf mit Zorn. Die katholische Kirche ist ein wunderbares Mischgebilde aus diesen zwei Dingen: Auf der einen Seite ist sie heilig, weil von Gott gestiftet und das Haus der Sakramente, insbesondere des Leibes Christi. Auf der anderen Seite ist sie eine hot mess von Sündern, die auf dem Weg zur Heiligkeit nur so durch die Gegend stolpern. Über das Opfer Christi kann man sich nicht lustig machen, ebensowenig wie über Lily Potter. Über die fehlbaren und begrenzten Menschen prinzipiell schon.[2]

 

Wir dürfen also getrost unsere menschlichen und eingeschränkten Versuche, dem Ideal nachzukommen, auf die Schippe nehmen und uns darüber lustig machen. Es erinnert uns daran, dass es das Ideal gibt und wir ihm verpflichtet sind, und nicht den Erwartungen irgendwelcher Menschen oder schlimmer: irgendwelcher menschengemachter Idealen. Wir können (und sollten!) auch Welten imaginieren, in denen das Meer aus Marmelade ist und das Gras aus Sicherheitsnadeln, und in denen Menschen statt Haare Schlangen haben oder Nudeln. All das dient der gesunden Erkenntnis, dass trotz aller Verrücktheiten, trotz aller Verdrehungen und selbst in der absoluten Fremde gilt: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.

 

 

  

 

 


 

[1] Nur um ganz klar zu sein: Ich möchte damit nicht sagen, dass diese Filme diabolisch sind oder dass man sie als Katholik nicht sehen darf. Das wäre eine Frage für einen anderen Eintrag. Oder einen Priester deines Vertrauens.

[2] Das heißt übrigens nicht, dass jeder Versuch, sich über Menschen in der Kirche lustig zu machen, klug, geschmackvoll oder notwendig ist. Bei der Bewertung gelten da auch die Grenzen des Anstands. Blasphemie ist es aber nicht. 

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