Du bist doch nicht etwa auf den Kopf gefallen?!

 

Doch, bin ich, und zwar gestern Nacht. Und, halte dich fest: aus dem Bett. Zu meiner Verteidigung, ich habe nicht in meinem eigenen Schlafzimmer geschlafen. Außerdem war es schon ein Uhr nachts und der Nachttisch ist ein gutes Stück weiter entfernt, als man erwarten würde. Gott hat wirklich einen besonderen Humor; habe ich doch erst in meinem letzten Artikel davon geschrieben, wie wichtig es ist, die Dinge auf dem Kopf zu sehen. Diesmal habe ich nichts gesehen, nur Blitze, als mein Schädel auf dem Boden aufgeprallt ist, aber im übertragenen Sinne ist mir dabei auch ein Licht aufgegangen.

In welcher Hinsicht? Was kann es bedeuten, wenn man auf den Kopf fällt? Offenbar ein paar Dinge, denn als ich nach der Aktion wieder in meinem Bett lag und mir den Kopf hielt, musste ich darüber erstmal nachdenken und schließlich einen Blogeintrag schreiben. Voilà! Hier ist er.

 

Mein Leib und ich

 

Wir vergessen oft, wie sehr der Leib uns beeinflusst und welche Bedeutung er für unser geistiges Leben hat. Solange er gut funktioniert, bemerken wir unseren Leib irgendwie gar nicht richtig. Wir sind wie ein Drachen, den ein Kind an der Leine festhält. Solange das Kind läuft, schweben wir mit einem Gefühl von Freiheit hoch in der Luft. Wenn das Kind hinfällt, stürzen auch wir ungehindert zu Boden und erinnern uns daran, dass es ja so etwas wie die Schwerkraft gibt. Der Sturz erinnert uns an unsere Begrenztheit und bewahrt uns davor, dem Geist allzu sehr zu huldigen.

Aber nicht nur das: Je nachdem, wo es wehtut, nimmt man den Schmerz anders wahr. Die meisten Leute kennen zum Beispiel eine Erkältung. Das ist meistens keine große Sache; dem dumpfen Unwohlsein lässt sich mit Tee, Honig, Kopfschmerztabletten und anderen Mitteln ganz gut beikommen. Aber ein nächtlicher Sturz auf den Kopf bringt einen dazu, die Dinge anders zu sehen. Man fällt schließlich selten auf den Kopf. Normalerweise kann man sich rechtzeitig mit den Händen abstützen, wo es nicht so schlimm ist. Warum? Weil die Hände natürlich immer mit allen Dingen in Kontakt stehen. Sie halten Besteck, sie halten Hämmer und Nägel, Kämme, Bürsten und natürlich Stifte. Sie tippen auf Tasten und spielen auf Saiten. Mit den Händen interagiere ich mit der Welt, mit anderen Menschen und sogar mit meinem eigenen Leib. Hände haben eine dicke Haut. Sie können einiges aushalten. Ich kann sie benutzen, um jemanden auf Abstand zu halten: Ich kann mit meiner Hand Menschen ohrfeigen, boxen oder schubsen. Die Hände leisten die Drecksarbeit, und das oft, um den Kopf zu schützen.

Bezeichnet man jemanden als melancholisch, greift man auf das Vermächtnis der Vier-Säfte-Lehre zurück, die die physischen und psychischen Pathologien einzelner Menschen auf einen bestimmten Körper-‚Saft‘ zurückführte. In der Medizin ist diese Theorie längst überholt. Aber auch sie wird von der Idee getragen, dass physische Ereignisse mit psychischen zusammenhängen können, und diese Idee lässt sich leicht bestätigen, wenn wir daran denken, wie tief uns physische Gesten beeindrucken können.

 

Ein Fußball und geistige Umnachtung

 

Nur vertraute Menschen umarmt man. Fremden Menschen gibt man die Hand, die, wie oben beschrieben, unser primäres Interaktionsmedium ist. Nur in wenigen Situationen lassen wir es zu, dass jemand unserem Gesicht sehr nahekommt. Der Kopf ist nicht nur die Kontrollstation, er ist mein primäres Kommunikationsmedium, und er ist der Ort, wo ich die Welt verarbeite. Und er ist empfindlich. Als ich vielleicht zehn Jahre alt war, schoss ein Nachbarsjunge einen Fußball „volle Kanne“ in mein Gesicht.[1] Für einen Moment hatte ich das Gefühl, blind zu sein – nicht nur, weil ich meine Augen geschlossen hatte, sondern weil ich für einen Moment völlig der Welt entrückt war. Stattdessen sah ich Sterne. Von einem kommunizierenden, bewussten Menschen wurde ich für einen Moment in den Zustand eines schmerzhaften, unkommunikativen Seins zurückversetzt – wie ein Computer, der unvermittelt einen Neustart durchführt.

Wer auf den Kopf fällt oder sich den Kopf anschlägt, der verliert in einem Moment den Überblick über sich selbst. Mindestens für eine Schrecksekunde umfängt dich eine tiefe Nacht, in der Schmerzsplitter glitzern. Man zuckt zusammen und der Rest des Körpers erstarrt, bis das Bewusstsein langsam anfängt, den Schaden zu begutachten. Dann betastet man den Kopf vorsichtig, bewegt ihn hin und her, und beginnt die Situation zu evaluieren.

 

Eine Demütigung

 

Als Kind streift man solche Sachen leichter ab. Aber als Erwachsener bleiben nach dem peinlichen Erlebnis ein paar vorwurfsvolle Fragen offen, wie zum Beispiel: Wie kann man nur so blöd sein, mit 21 Jahren aus dem Bett zu fallen? Jap, sich den Kopf anzuschlagen, ist eine Demütigung. Das ist es immer, wenn man die Kontrolle verliert. Warum lachen wir eigentlich, wenn jemand hinfällt? Und das ganz ohne böse Hintergedanken? Es gibt ein zum Sterben witziges Video auf YouTube, von einem Löwen, der majestätisch in seinem Gehege umhergeht, plötzlich ausrutscht und Hals über Kopf im Wasserbecken landet. Besonders witzig sind die paar Sekunden, in denen er verzweifelt vergeblich versucht, noch das Gleichgewicht zu halten. Oder wie er sichtlich versucht, seine Würde zu bewahren, als er wieder an Land paddelt. Oder der andere Löwe, der ihn vom Ufer aus mitleidig beobachtet.

Bei meinem Sturz aus dem Bett hat sich wahrscheinlich am meisten mein Schutzengel ins Fäustchen gelacht. Schön für ihn! Der Befehl kam von oben; er hatte keine andere Wahl, und muss kein schlechtes Gewissen haben. Ich hoffe sehr, dass alle Heiligen, die zu dem Zeitpunkt zufällig auf mich runtergeschaut haben, auch herzlich gelacht haben. Dann hatte es wenigstens den richtigen Nutzen: Nämlich, mich bis auf die Knochen vor der himmlischen Gemeinde zu blamieren. Und welche Lehre soll ich daraus ziehen? Dass man sich selbst und kleinere Kontrollverluste nicht so ernst nehmen sollte. Aus der himmlischen Perspektive zeigt sich oft, dass man nicht nur einen Sturz auf den Kopf, sondern vielleicht auch andere Dinge nicht allzu ernst nehmen sollte.

 

Geistesblitze

 

Das Besondere beim Kontrollverlust, das Besondere, wenn man auf den Kopf fällt, ist, dass man sofort darüber nachdenken muss. Schlägt man sich den kleinen Zeh an, dann flucht man ein bisschen und fühlt sich sofort besser. Vielleicht tritt man nach dem schuldigen Möbelstück – natürlich erst, nachdem man den Fuß mit stahlkappenbesetzten Schuhen ausgerüstet hat. Ein schwerer Choleriker verfrachtet es vielleicht umgehend auf den Dachboden, oder heizt nach angemessener Zerkleinerung damit den Ofen an. Aber wenn ich einen Schlag auf den Kopf bekomme, reißt mich das kurz aus meinem Alltag heraus und ich muss die Situation einordnen. Ganz im Sinne des vorigen Artikels kann das auch eine inspirierende Erfahrung sein, wenn man sich unversehens auf den Kopf gestellt fühlt. Egal, ob mit oder ohne Aufprall.

Wie alt war wohl Isaac Newton, als ihn der Apfel auf den Kopf traf? Ob er sich auch darüber aufgeregt hat? Oder ihn wütend über den Zaun geschleudert hat? Vielleicht ist ja auch Archimedes in der Badewanne ausgerutscht, bevor er laut Heureka rufend durch die Straßen lief? Und hat nicht auch Abraham Sterne gesehen?

Fazit: Lass‘ dich fallen. Vielleicht nicht unbedingt aus dem Bett, aber aus einer Haltung, in der du immer die Kontrolle behalten willst. Ja, klar, du wirst dir höchstwahrscheinlich den Kopf stoßen, aber dafür bekommst du etwas Wertvolles zurück. Schätze deine Selbstkontrolle nicht so hoch. Überlasse sie lieber Gott. Und beeile dich, bevor sich der Herr dazu entscheidet, dir selbst unsanft den Weg zu zeigen. Denn seine Devise ist: Besser ist es, kopfüber mit ein paar Beulen in den Himmel zu purzeln, als mit erhobenem Kopf zur Hölle zu fahren.

 

 


 

[1] Wahrscheinlich hatte ich es verdient.

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