Squeeze the Day - Teil I

Neulich wurde mir auf Instagram in der Abschiedsfloskel eines Posts „ein gute[r] und produktive[r] Tag“ gewünscht. Der entsprechende Influencer konnte natürlich nicht wissen, dass ich diesen Post am ersten Weihnachtsfeiertag lesen würde. Trotzdem fühlte ich mich unangenehm berührt. Sollte ich etwa produktiv sein? Also nicht in meinem Bett fläzen und Instagram-Posts über irgendwelches Influencer-Drama verfolgen? Ich spürte den peer pressure einer Gesellschaft, die den Wert eines Tages und das Glück einer Person an ihrer Produktivität misst. Vor meinem Auge flatterten gleißende Bilder von Zeitplänen, To-Do-Listen, effektiven Gewohnheitsangewöhnungssoftwares, Motivationsplaylists … offensichtlich mentale Zeitbomben, die mir in den letzten Wochen und Monaten durch Werbung, Influencer und Kommilitonen untergeschoben worden waren.

Ich verspürte den Drang, aufzustehen und mir einen Gemüse-Smoothie zu machen, oder Blumenkohl mit Avocado-Creme, gleichzeitig ein Bad mit mindestens drei Lush-Badebomben zu nehmen und dabei zwei Liter Wasser mit Gurkenscheiben zu trinken (Self Care muss schließlich sein), um mich in Anschluss in wilde Produktivität zu stürzen – mindestens vier Stunden in möglichst effizienten 26-Minuten-Einheiten – damit ich am Abend ohne schlechtes Gewissen ins Bett gehen konnte. Nackte Angst packte mich, als ich an die E-Mails des Produktivitätscoachs dachte, der mir freundlicherweise jeden Tag meinen Spam-Ordner füllt, und mich entweder mit Fragen quält (Möchtest du wissen, wie du gleichzeitig faul und erfolgreich sein kannst? Wusstest du, dass du erfolgreich sein kannst, ohne ein ‚disziplinierter Mensch‘ zu sein? Gibt es überhaupt so etwas wie ‚unendliche Motivation‘?)  oder mit klischeehaften Zitaten (z.B.: Just when the caterpillar thought the world was ending, he turned into a butterflyProverb).

In dem Moment leuchtete ein Stern am Horizont auf und durchbrach das kurzzeitige Chaos aus produktiver aesthetic, die mich umnebelt hatte. Vermutlich handelte es sich um ein Überbleibsel aus den verdrängten Schuldgefühlen wegen meiner herausgeschobenen Lyriklektüre, doch es war wirkungsvoll: Carpe Diem!  Dieser Ausdruck, stammte, wie ich noch ungefähr wusste, aus einem Ode von Horaz. Im heutigen Sprachgebrauch wird er gewöhnlich mit „Nutze den Tag“ oder „Genieße den Tag“ übersetzt: 2012 ersetzte die Jugend den Ausdruck durch das Akronym YOLO.

 Doch heute liest sich der Ausdruck wie ein Produktivitätsmantra: Carpe Diem!  Nutze den Tag! Nutze jede Minute – auch deine Freizeit! Man überproduziert Produktivität: Der Spaziergang muss effizient Entspannung liefern, das Treffen mit Freunden muss befriedigend enden, sogar das Einschlafen wird mithilfe einer Mindfulness-App zu einem strukturierten Ritual. Das eigene Seelen- und Gedankenleben wird in Journals, Diaries und Blogs[1] festgehalten, sortiert, eingeordnet, analysiert und therapiert.

Warum aber hat mir dann gerade dieser Ausdruck, der doch so anfällig ist für diese Produktivitätspathologie neuen Mut und Kampfgeist eingeflößt? Und wie konnte er mir eine neue Perspektive auf mein eigenes Leben ermöglichen? Natürlich deswegen, weil ein spitzfindiger Haarspalter wie ich weiß, dass Carpe Diem, so wie Horaz den Ausdruck verwendet hat, keineswegs diese Bedeutung hat – weder die von YOLO, noch der Produktivitätsanbeter.

Carpe Diem bedeutet wörtlich übersetzt: Pflücke den Tag. Diese landwirtschaftliche Metapher soll, so Wikipedia, dem Ausdruck eine sinnliche, ruhige Komponente verleihen. Es geht nicht darum, jeden Tag bis zum Erbrechen mit Genüssen anzufüllen – und auch nicht mit sogenannten produktiven Tätigkeiten.

Denn wenn mir jemand einen „produktiven Tag“ wünscht, stelle ich mir die Frage: In welcher Hinsicht produktiv? Was soll ich produzieren, und wozu? Ist Produktion an sich überhaupt sinnvoll? Ich denke an das Märchen von dem magischen Haferbreitopf, der auf das Zauberwort hin begann, ohne Ende Haferbrei zu produzieren und schließlich das ganze Dorf darin zu ertränken. Ein ziemlich produktiver Topf, viel produktiver als ich. Aber nur, weil das Wort pro in einem Wort steckt und sich irgendwie anhört, als sei es der gute, heldenhafte Bruder des Volksfeindes Prokrastination, darf man es doch nicht gleich verabsolutieren.

Die Gartenarbeit ist keine schlechte Metapher für Arbeit – denn das Wetter, die Jahreszeit und viele andere Umstände diktieren, welche Arbeit wann gemacht werden muss, damit ein Produkt entstehen kann. Die Widrigkeiten, auf die der Gärtner achten muss, geben seiner Arbeit einen Sinn. Wird es zu kalt, muss man die Pflanzen abdecken; wird es zu heiß, muss man sie gießen. Werden die Äste zu ausladend, muss man sie beschneiden. Wird die Rinde von Tieren abgenagt, muss man die Stämme mit einer Schutzschicht umwickeln. Man muss entsprechend seines Ziels agieren – und das Ziel ist das Produkt, nicht die Produktivität. Man muss mit der Ernte warten, bis die Früchte reif sind und sollte nicht vorher damit anfangen, nur weil es sonst nichts zu tun gibt und man produktiv sein muss.

Ich frage mich, ob der Produktivitätswahn daherkommt, dass die Menschen in ihrer Arbeit an sich keinen Sinn mehr sehen – und deshalb dazu übergehen, das effiziente Arbeiten an sich als Wert zu betrachten. „Wenigstens war ich heute produktiv“ ist einer der traurigsten Sätze, die man sich vorstellen kann. Er beinhaltet das Eingeständnis, dass man eigentlich nichts zuwege gebracht hat, aber wenigstens nicht faul herumgesessen ist, was vielleicht besser gewesen wäre, weil einen das schlechte Gewissen dann vielleicht zu etwas Sinnvollem überreden würde. Stattdessen hat man sich selbst zu einem magischen Haferbreitopf degradiert.

Aber noch schlimmer ist es um den bestellt, der abends mit einem begeisterten Lächeln ausruft: „Ich war heute ja so produktiv!“ Dieser elende Narzisst spannt die Gabe des Handelns, des Schaffens, des Arbeitens, vor den Karren seiner eigenen Selbstverherrlichung – und trennt entkernt ihn dadurch, macht ihn zu einer Parodie seiner selbst. How dare you!  So eine Person versteht nichts von der Sinnhaftigkeit, die im Handeln an sich steckt, sie versteht nichts von ihrer eigenen Verantwortung und Würde als Kreatur, die überhaupt Zwecke erkennt und ihnen folgt. Durch seine Produktivität zerreißt er den Zusammenhang von Sinn und Handeln und trampelt darauf herum. Anstatt den Tag zu pflücken, zerquetscht er ihn zwischen seinen rohen, dekadenten Fingern, begeistert und berauscht von seinem eigenen blödsinnigen, brutalen Griff.

 



[1] Natürlich nicht in diesem Blog, der selbstverständlich von allen Lastern frei ist, allen voran von Scheinheiligkeit. 

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Kommentare: 2
  • #1

    The Ogre (Freitag, 03 Januar 2020 18:36)

    You did enjoy your Christmas I bet!

  • #2

    littlestar (Samstag, 04 Januar 2020 14:58)

    Hat mich echt zum Nachdenken gebracht! :)